Wortbildung im Deutschen

In der 1. Auflage des Dudens von 1880 waren 27'000 Stichwörter gelistet, in der 27. Auflage von 2017 sind es bereits 145'000. Vom Eintrag bewirten bis und mit beziffern gab es in der 1. Auflage 22 Einträge, im Duden von 2017 bereits deren 90. Seit 1880 sind im betreffenden Abschnitt zwei Wörter verschwunden, nämlich bezichten und beziehentlich, gleichzeitig aber etwa 70 Einträge neu dazugekommen.

Zu den Neueinträgen gehören einige weibliche Formen (Bewohnerin, Bewunderin) und Abkürzungen (bez., Bez.). Viele der neuen Einträge sind aber ganz neue Wörter, die es 1880 noch gar nicht gab, etwa Bewirtungsvertrag, Bewusstseinserweiterung, Bezahldienst, Bezahlfernsehen, Bezahlsender, Beziehungsarbeit, Beziehungskiste oder Beziehungsstress, um nur einige zu nennen.

Die Welt wird offensichtlich immer komplexer. In Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Technik, aber auch in der Werbung oder im Freizeitbereich müssen ständig neue Dinge, Sachverhalte und Ideen bezeichnet werden. Zwar können Wörter aussterben, wenn sie wie die bekannte Wählscheibe keine Rolle mehr spielen oder wenn sie durch andere Wörter ersetzt werden. Doch unter dem Strich wächst der Wortschatz, und das vor allem im Bereich der Nomen. Die Vergrösserung des Wortschatzes wird einerseits erreicht durch die Aufnahme von Wörtern aus andern Sprachen, was etwa Anglizismen wie Homepage, Provider oder Start-up erklärt. Andrerseits werden aber auch laufend deutsche Neubildungen geschaffen, und zwar mithilfe eines Baukastensystems.

Das Baukastenprinzip


Auswertungen des Dudenkorpus, einer riesigen Datenbank der Dudenredaktion, haben ergeben, dass es 23 Millionen verschiedene Wörter gibt (Stand 2017). Das ist nur möglich, weil es im Deutschen sehr einfach ist, neue Wörter zu bilden. Dazu dient ein Baukastenprinzip, mit dem aus Bekanntem leicht Neues gebildet werden kann. Ein Blick in ein Wörterbuch zeigt, dass nur wenige Wörter nicht irgendwie zusammengesetzt sind, dass also Simplizia wie Ofen, Tür oder Fabrik relativ selten sind. Die meisten Wörter im Wörterbuch sind Wortbildungen. Dem Stammwort Fabrik folgen etwa 20 weitere Einträge wie Fabrikanlage, Fabrikat, Fabrikationsprozess, Fabrikgelände, fabrikneu oder fabrizieren.

Der Vorteil des Baukastenprinzips besteht darin, dass Wortbildungen sofort verstanden werden und dass das Gedächtnis beim Lernen der Begriffe entlastet wird. Denn die Neubildungen bestehen weitgehend aus bekannten Elementen. Das begriffliche Gedächtnis muss zwar die neue Bedeutung erlernen: Wir müssen lernen, was mit Bewusstseinserweiterung, Bezahlfernsehen oder Beziehungsarbeit gemeint ist. Die Wortform selbst hingegen lernen wir rasch, weil uns ihre Bausteine und deren Bedeutung bereits vertraut sind.

Die Wortbausteine (Morpheme)


Wenn von einem Baukasten die Rede ist, so müssen zuerst die einzelnen Bausteine, die sogenannten Morpheme, vorgestellt werden. Es sind dies die Wortstämme, die Vorsilben (Präfixe) und die Nachsilben (Suffixe). Mit diesen Wortbausteinen, die eine lexikalische oder eine grammatische Bedeutung haben, lassen sich neue Wörter bilden.

Als freie Morpheme bezeichnet man Wortbausteine, die auch als eigenständige Wörter vorkommen. Der Wortstamm ist meistens ein solches freies Morphem. Im Wort verwundbar heisst der Wortstamm wund. Er ist ein freies Morphem, denn wund kann auch alleine als Wort auftreten. Bei der Bildung eines neuen Wortes muss mindestens ein Baustein ein solches freies Morphem sein.

Gebundene Morpheme sind Wortbausteine, die nicht als eigenständige Wörter existieren. Gebundene Morpheme sind z. B. die Flexionsmorpheme, mit denen einem bestehenden Wort grammatikalische Informationen hinzugefügt werden: die Frau/en (Plural), des Haus/es (Genitiv), ge/brach/t (Partizip), sie arbeit/et (3. Sg.). Für die Wortbildung von Bedeutung sind die Wortbildungsmorpheme, d.h. die Präfixe (Vorsilben), die einem Wort oder Wortstamm vorne angefügt werden, und die Suffixe (Nachsilben), die einem Wort oder einem Wortstamm hinten angefügt werden. Auch die Fugenelemente gehören zu den gebundenen Morphemen. Sie stehen oft an der Fugenstelle einer Wortzusammensetzung. Die Herkunft dieser Fugenelemente ist nicht geklärt, eine Bedeutung haben sie nicht: Kind/er/spielplatz, Geburt/s/tag/s/kuchen, Seele/n/leben, Schmerz/ens/geld. Da viele Wortzusammensetzungen kein solches Fugenelement haben, gibt es gelegentlich Zweifelsfälle. Heisst es nun Kalbsteak oder Kalbssteak? Stellungnahme oder Stellungsnahme?

Wortbildung durch Zusammensetzung (Komposition)


Komposition bedeutet, dass ein Wort A und ein Wort B zusammengesetzt werden, um ein neues Wort zu bilden. Durch Komposition werden vor allem Nomen und Adjektive, etwas weniger häufig Verben gebildet: Auto/bahn, Eisen/mangel, Jung/pflanze, Schnell/boot; blitz/schnell, wasser/dicht, dunkel/blau; wunder/nehmen, fertig/machen.

Der zweite Wortbestandteil einer Komposition (Wort B) ist das Grundwort. Das Grundwort trägt die Grundbedeutung und legt immer die Wortart der ganzen Wortzusammensetzung fest. Der erste Wortbestandteil (Wort A) ist das Bestimmungswort, welches das Grundwort inhaltlich modifiziert. Manchmal wird zwischen dem Bestimmungswort und dem Grundwort ein Fugenelement eingefügt.

Der inhaltliche Zusammenhang zwischen den Wortteilen einer Komposition kann ganz unterschiedlich sein. So ist Kinderlärm der Lärm der Kinder, ein Kinderwagen ein Wagen für Kinder, eine Kinderschar eine Schar von Kindern, ein Kinderwunsch ein Wunsch nach Kindern oder eine Kinderehe eine Ehe zwischen Kindern.

Wortbildung durch Ableitung (Derivation)


Ableitung mit Präfix (Vorsilbe) bedeutet, dass einem Wort eine Vorsilbe vorangestellt wird. Das häufigste Präfix von Verben ist ver-, gefolgt von be-, ent-, er- und zer-: versetzen, belegen, entwickeln, erfahren. Diese Präfixe treten nie als eigenständige Wörter auf und werden nie vom Verb getrennt.

Ebenso häufig sind sogenannte Halbpräfixe an der Bildung von Verben beteiligt. Diese unterscheiden sich von den Präfixen dadurch, dass sie auch als eigenständige Wörter auftreten können. Halbpräfixe sind oft Partikeln, wie z. B. ab-, an- auf-, aus-, durch-, her-, hin-, mit-, nach-, über-, unter-, um-, vor-, weg-. Wenn diese Partikeln bei der Konjugation vom Verb abgetrennt werden, spricht man auch von einem Verbzusatz: Ich nehme es mit.

Bei der Bildung von Adjektiven spielen weitere Präfixe und Halbpräfixe eine wichtige Rolle: unvollständig, hochintelligent, vollautomatisch, grundehrlich, tieftraurig, um einige wichtige zu nennen.

Weil Halbpräfixe als eigenständige Wörter existieren, könnte man sich auch auf den Standpunkt stellen, bei solchen Wortbildungen handle es sich nicht um Ableitungen, sondern um Kompositionen, also Zusammensetzungen zweier Wörter.

Ableitung mit Suffix (Nachsilbe) bedeutet, dass einem Wortstamm beziehungsweise einem Wort eine Nachsilbe angehängt wird. Die Nachsilbe bestimmt die Wortart der betreffenden Wortbildung. Häufige Suffixe von Adjektiven sind -lich, -ig, -isch, -bar, -sam, -haft, wie in ehrlich, glasig, mürrisch, sittsam oder namhaft. Bei der Bildung von Nomen spielen die Suffixe -heit, -keit, -ung, -nis, -ität eine wichtige Rolle.

Halbsuffixe sind Bausteine, die als selbständige Wörter, aber auch als Suffixe auftreten können und die bedeutungstragend sind. Halbsuffixe von Adjektiven sind z.B. -mässig, -wert, -los, -arm, -frei, wie in verhältnismässig, preiswert, tatenlos, oder nikotinfrei.

Innere Ableitung bedeutet, dass der Stammvokal verändert wird. Die innere Ableitung tritt oft in Kombination mit einer Suffigierung auf. Wird der Stammvokal, wie im folgenden Beispiel, durch einen anderen Vokal ersetzt, spricht man von Ablautung: geben-Gabe, sprechen-Sprache, brechen-Bruch, stechen-Stich. Wird der Stammvokal zu einem Umlaut, spricht man von Umlautung: lassen-lässig, Form-förmlich, Fund-fündig.

Kurzwörter


Auch die Bildung von Kurzwörtern ist eine Form der Wortbildung: Krimi statt Kriminalroman, Auto statt Automobil, PW statt Personenwagen oder ABS statt Antiblockiersystem.

Wortfamilien


Als Wortfamilie bezeichnet man die Gruppe der Wörter, die einen Wortstamm gemeinsam haben. Die Wörter wund, Wunde, verwundbar, verwunden, Wundheilung gehören zur selben Wortfamilie, weil sie den Wortstamm wund gemeinsam haben. Grosse Wortfamilien können einige hundert Wörter umfassen.

Kombinationen


An der Wortbildung sind sehr häufig mehrere Schritte beteiligt. Die folgenden Wörter etwa sind aus einer Präfigierung und einer Suffigierung entstanden: ein/fühl/sam, Ver/teil/ung. Aber auch zwei Präfigierungen und eine Suffigierung sind möglich: un/ent/schuld/bar, Vor/be/stell/ung.

An der Bildung der Wortes Un/ab/häng/ig/keit/s/er/klär/ung sind, wenn man das Fugen-s mitzählt, 10 Schritte beteiligt: 3-mal Präfigierung (un-, ab-, er-), 3-mal Suffigierung (-ig, -keit, -ung), 2-mal Ableitung (häng, klär), 1-mal Fugen-s sowie 1-mal Komposition von Unabhängigkeit und Erklärung.


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